Das Recht der Baugenehmigung – Teil 23 – Die bauordnungsrechtliche Zulässigkeit von Bauvorhaben
2. Kapitel Die bauordnungsrechtliche Zulässigkeit von Bauvorhaben
Das Bauordnungsrecht lässt sich im Wesentlichen als ein besonderer Ausschnitt aus dem Sicherheitsrecht begreifen. Es geht also um die spezifische Gefahrenabwehr bei baulichen und sonstigen Anlagen. Das Bauordnungsrecht ist folglich auf die Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auf dem Gebiet des Bauwesens gerichtet.
Das Bauordnungsrecht lässt sich unterteilen in formelles und materielles Bauordnungsrecht.
Ersteres umschließt Fragen der Organisation, der Befugnisse und der Zuständigkeit der Behörden sowie das Verfahren, insbesondere auch das Verfahren zur Erteilung einer Baugenehmigung.
Das materielle Bauordnungsrecht enthält insbesondere inhaltliche Anforderungen an das Bauwerk, und zwar sowohl an seine Konstruktion als auch an seine Gestaltung. Darunter fallen beispielsweise das Abstandsflächenrecht und der Gestaltungsschutz.
Die Landesbauordnungen stellen die wesentlichen Rechtsquellen des Bauordnungsrechts dar.(Fußnote)
2.1. Das Grundstück und seine Bebauung
Die Bauordnungen treffen Regelungen, die das Verhältnis des einzelnen Bauvorhabens zu dem Grundstück behandeln. Dies sind Regelungen über die Bebauung des Grundstücks mit Gebäuden und die damit verbundenen Erschließungserfordernisse, über Zugänge und Zufahrten zu den Grundstücken, über Abstandsflächen und Abstände sowie über Grundstücksfreiflächen und Kinderspielplätze. Einige Bauordnungen enthalten zusätzlich z.B. Regelungen über die Teilung von Grundstücken sowie über die Einfriedung von Grundstücken.(Fußnote)
2.1.1. Bauliche Anlage
Der Begriff der baulichen Anlage ist weitgehen – aber nicht völlig – inhaltsgleich mit dem bundesrechtlichen Begriff der baulichen Anlage i.S.d. § 29 BauGB. Aus der unterschiedlichen Zwecksetzung des Bauplanungsrechts und des Bauordnungsrechts folgt, dass die Begriffe nicht identisch sind. Der Begriff der baulichen Anlage i.S.d. Planungsrechts ist insofern enger. Denn im Planungsrecht geht es um die Schaffung von baulichen Anlagen, die in einer auf Dauer gedachten Weise künstlich mit dem Erdboden verbunden sind und eine bodenrechtliche Relevanz aufweisen.(Fußnote)
Bauliche Anlagen i.S.d. Bauordnungsrechts sind mit dem Erdboden verbundene, aus Baustoffen und Bauteile hergestellte Anlagen. Diese Verbindung mit dem Erdboden setzt nicht voraus, dass Anlage wesentlicher Bestandteil des Grundstücks ist. Vielmehr ist maßgeblich, dass sich die Unbeweglichkeit des Bodens – vermittelt durch eine feste Verbindung (Fundament, Verankerung, Einbau) – auf die bauliche Anlage überträgt.(Fußnote) Eine unmittelbare Verbindung mit dem Boden ist nicht erforderlich. Vielmehr reicht eine mittelbare Verbindung, die durch eine Hauswand bewirkt werden kann, aus.(Fußnote)
Eine Verbindung mit dem Erdboden besteht auch, wenn die Anlage durch eigene Schwere auf dem Erdboden ruht oder auf ortsfesten Bahnen begrenzt beweglich ist bzw. wenn die Anlage nach ihrem Verwendungszweck dazu bestimmt ist, überwiegend ortsfest genutzt zu werden. Das ist anzunehmen, wenn die Anlage infolge Größe, Länge, Höhe, Festigkeit in unzerlegtem Zustand ohne Inanspruchnahme technischer Hilfsmittel nicht fortbewegt werden kann.(Fußnote)
Andererseits kann der landesrechtliche Begriff weiter sein, weil im Wege einer Fiktion bestimmte Anlagen als bauliche Anlagen gelten (Aufgrabungen, und Aufschüttungen, Lager-, Abstell- und Ausstellungsplätze, Sport- und Spielplätze, Camping- und Wochenendplätze, Vergnügungsparks, Stellplätze für Kraftfahrzeuge) ohne dass es für den bauordnungsrechtlichen Begriff auf eine bodenrechtliche Relevanz ankommt.(Fußnote)
Die Bauordnungen der unterschiedlichen Bundesländer sind nicht immer deckungsgleich, so dass die Rechtsprechung der einzelnen Bundesländer hierzu nicht ohne weiteres übertragen werden kann.(Fußnote)
2.1.2. Abstandsflächenrecht
Die in der Praxis sehr bedeutsamen Abstandsvorschriften richten sich auf eine ausreichende Belichtung und Belüftung des Gebäudes, auf Brandschutz sowie auf den Schutz des Nachbarn vor Beengung der Einsicht.(Fußnote) Das Schutzgut der sozialen Distanz kann darüber hinaus auch durch erhebliche Geruchsbelästigungen beeinträchtigt werden.(Fußnote)
Die konkrete Ausgestaltung variiert länderweise.
Die Abstandsflächen sind Flächen vor den Außenwänden von Gebäuden. Sie entsprechen der Gebäudehöhe und der Gebäudebreite. Grundsätzlich sind sie vor den Außenwänden von Gebäuden erforderlich, müssen auf dem Baugrundstück liegen und dürfen nicht mit oberirdischen Gebäuden bebaut werden und einander nicht überdecken.(Fußnote)
Das System der Abstandsflächen geht von dem „Normalfall“ des Gebäudes mit (weitgehend) rechteckigem Grundriss und Flachdach oder geneigter Dachform aus, dessen senkrechte Außenwände einen gleichmäßig horizontalen oberen Abschluss aufweisen und parallel zu den Grundstücksgrenzen verlaufen.(Fußnote)
Der einzuhaltende Abstand beträgt zwischen 1 H (Art. 6 Abs. 5 S. 1 BauO Bay.) und 04 H (§ 6 V 1 BauO MV; H = Wandhöhe zuzüglich der Höhe von Dächern und von Giebelflächen im Bereich des Daches in Abhängigkeit von dessen Neigung), d.h. bei einem Wert H = 10 m berechnet sich eine Abstandsfläche von 10 m bzw. 4 m – regelmäßig gilt jedoch ein Mindestabstand von 3 m (Art. 6 Abs. 5 BauO Bay., § 6 Abs. 5 BauO MV, § 5 Abs. 2 BauO Nds., § 6 Abs. 5 S. 4 BauO NRW). In Kern-, Gewerbe und Industriegebieten brauchen nur geringere Abstände eingehalten zu werden (etwa § 6 Abs. 5 S. 2 BauO MV, § 6 Abs. 5 S. 1, 2 BauO NRW).(Fußnote)
Ausnahmen von den Regelabstandsflächen gelten im Rahmen sog. Grenzbebauung für Nebengebäude ohne Aufenthaltsräume(Fußnote), wie Garagen. Deren Nutzungserweiterung, etwa als Terrasse oder Wintergarten, wird vom Anwendungsbereich der Privilegierungsvorschrift nicht erfasst. Entsprechendes gilt für Garagen mit Abstand zur Nachbargrenze.(Fußnote)
Abstandsflächenrechtliche Privilegierungen finden sich ferner für untergeordnete Bauteile (Gesimse, Dachvorsprünge, Hauseingangüberdachungen) und Vorbauten (Balkone, Wintergärten, Erker; vgl. Art. 6 Abs. 8 Nr. 2 BauO Bay., § 6 Abs. 6 BauO MV, § 5 BauO Nds.). Einige Bauordnungen gestatten zur Verbesserung des Wärmeschutzes, die Außenwände bestehender Gebäude nachträglich zu bekleiden oder zu verblenden bzw. die Dachhaut anzuheben und damit die ursprünglich zulässigen Abstandsflächen zu unterschreiten (vgl. § 6 Abs. 14 S. 1 BauO NRW, § 6 Abs. 6 S. 3 BauO Hess., § 8 Abs. 4 BauO Saarl.).(Fußnote)
Eine weitere Ausnahme stellt das Schmalseitenprivileg oder 16 m-Privileg dar. Vor zwei Außenwänden eines Gebäudes von nicht mehr als 16,0 m Länge genügte als Tiefe der Abstandsfläche die Hälfte der an sich erforderlichen Tiefe bzw. ein in m angegebenes Mindestmaß. Dieses Privileg gibt es jedoch nur noch in sieben Bundesländern. In Bayern, Hamburg und Nordrhein-Westfalen ist die Formulierung jeweils unverändert geblieben, während in drei Ländern die Gesetzgeber den Gesetzestext im Sinne der rechnerischen Betrachtungsweise geändert haben (BauO Bln, BauO MeVo, BauO Sa Anh.).(Fußnote)
Der Anwendungsbereich für die Einhaltung der materiellen Regelungen über Abstandsflächen ist immer von Bedeutung, wenn ein Gebäude errichtet, geändert oder in der Nutzung geändert wird.(Fußnote) Eine bloße Nutzungsänderung führt im Regelfall nicht dazu, dass die zur Zeit der Behördenentscheidung über diese Nutzungsänderung geltenden Abstandsflächenvorschriften erneut anzuwenden sind. Wenn eine bauliche Änderung in rede steht, kommt es für die Frage der Verletzung nachbarlicher Rechte darauf an, ob das geänderte Vorhaben nachteilige Auswirkungen auf wenigstens einen durch die Abstandsvorschriften geschützten Belang hat, d.h. ob mit dieser Änderung im Vergleich zu der bisherigen Situation eine Verschlechterung eintritt.(Fußnote)
Die Abstandsflächenfrage wird dann nicht erneut aufgeworfen, wenn bauliche Veränderungen an einem früher genehmigten Baubestand sich nicht nachteilig auf die durch die Abstandsflächen geschützten Belange auswirken können. Bauliche Veränderungen ab einem genehmigten Gebäude, dessen nach heutigem Recht einzuhaltende Abstandsfläche teilweise auf einem benachbarten Grundstück liegt, sind abstandsrechtlich regelmäßig dann unbeachtlich, wenn sie nicht zu einer nachteiligen Veränderung der Abstandsfläche auf dem Nachbargrundstück führen. Sofern die Mindesttiefe nicht unterschritten wird, ist es in einem derartigen Fall auch unerheblich, dass der Abstand zur Grundstücksgrenze verringert wird.(Fußnote)
Die Problematik dieser Regelung ist nach der Rechtsprechung des BVerwG dadurch gekennzeichnet, dass sie sowohl einer planungsrechtlichen als auch einer bauordnungsrechtlichen Regelung zugänglich ist, dass also Gesichtspunkte beider Rechtsgebiete miteinander verschränkt sind und nicht etwa Landesrecht insoweit Vorschriften bodenrechtlichen Charakters enthält.(Fußnote) Die Konkurrenz beider Rechtsgebiete ist in den Bauordnungen grundsätzlich in der Weise geregelt, dass die bauplanungsrechtlichen Bestimmungen über die geschlossene Bauweise dem Bauordnungsrecht vorgehen (vgl. § 6 Abs. 1 S. 2 BauO NW). Soweit jedoch ein Bebauungsplan Festsetzungen enthält, die nur verminderte Abstände ermöglichen, ist er nicht etwa wegen Verstoßes gegen Landesrecht nichtig.Die inhaltliche Zulässigkeit planerischer Festsetzungen bestimmt sich nicht nach Bauordnungsrecht, sondern nach dem BauGB und der BauNVO.(Fußnote) Jedoch wäre ein diesem Bebauungsplan entsprechendes Vorhaben wegen Verstoßes gegen Bauordnungsrecht rechtswidrig. Diesen Konflikt verhindern diejenigen Bauordnungen, die den Vorrang solcher Festsetzungen in Bebauungsplänen vorsehen (vgl. § 6 Abs. 14 BauO NW).(Fußnote)
Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Das Recht der Baugenehmigung“ von Olaf Bühler, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, mit Fußnoten erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2015, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-35-9.
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