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Kartellrecht – Eine Einführung – Teil 09 – Einzelfreistellung, Gruppenfreistellung nach den Gruppenfreistellungsverordnungen (GFVO), ungeschriebene Ausnahmen vom Kartellverbot


Herausgeber / Autor(-en):
Tilo Schindele
Rechtsanwalt

Constantin Raves
Rechtsanwalt


4.1.6.1.1.2 Angemessene Beteiligung der Verbraucher

Eine weitere Voraussetzung der Ausnahme des Art. 101 Abs. 3 AEUV ist die angemessene Beteiligung der Verbraucher am Gewinn, der aus der Vereinbarung folgt. Hierbei sind unter den "Verbrauchern" alle unmittelbaren und mittelbaren Abnehmer des Kartells zu verstehen, die nicht selbst Partei der Vereinbarung sind.(Fußnote) "Gewinn" meint die, bereits unter der ersten Voraussetzung erläuterten, Vorteile für den Markt.(Fußnote)
Nach der Rechtsprechung des EuGHs reicht es hierfür aus, wenn die positiven Auswirkungen einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung für die Mehrzahl der Verbraucher auf dem relevanten Markt spürbar werden. Es ist nicht erforderlich, dass die Vorteile auch für jeden einzelnen Verbraucher eintreten.(Fußnote)
Die Vorteile für die Verbraucher müssen wiederrum die Nachteile aufwiegen. Dies setzt voraus, dass nach den Merkmalen und der Struktur der betroffenen Märkte, nach Art der Effizienzgewinne und nach dem Ausmaß des bleibenden Wettbewerbs in hinreichendem Maße die Weitergabe der Effizienzgewinne an die Verbraucher gewährleistet ist.

4.1.6.1.1.3 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Sollten die beiden Voraussetzungen zu bejahen sein, scheidet eine Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV dennoch aus, wenn eine Prüfung ergibt, dass es zur Erreichung der Effizienzgewinne auch wettbewerbskonformere Lösungen als den Abschluss einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung gibt. Vereinfacht gesagt bedeutet dies, dass die wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung der beteiligten Unternehmen für die Erreichung der der Vorteile unerlässlich sein muss.
Insbesondere ist die Unerlässlichkeit dann zu verneinen, wenn die Effizienzgewinne nach den Umständen des Einzelfalls von den Unternehmen auch ohne die fragliche Vereinbarung, das heißt alleine im Wettbewerb erreicht werden können.(Fußnote)

4.1.6.1.1.4 Ausschaltung des Wettbewerbs

Als letzte Voraussetzung für die Anwendung des Art. 101 Abs. 3 AEUV ist erforderlich, dass es den beteiligten Unternehmen nicht ermöglicht wird, den Wettbewerb für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren auszuschalten. Vereinfacht ausgedrückt, muss auf jedem Markt der EU-Mitgliedsstaaten ein "funktionsfähiger" Wettbewerb erhalten bleiben, der seine elementare Steuerungs- und Koordinierungsfunktion erfüllen kann.(Fußnote)
Von einem "ausgeschaltetem" Wettbewerb kann dann ausgegangen werden, wenn auf dem relevanten Markt oder einem wesentlichen Teil von diesem eine beherrschende Stellung begründet oder verstärkt wird.(Fußnote)
Ist der relevante Markt abgegrenzt, sind bei der Beurteilung die Marktanteile der beteiligten Unternehmen maßgeblich, die sie aufgrund ihrer wettbewerbsbeschränkenden Maßnahme vermutlich erreichen werden.(Fußnote) Während von der Kommission Marktanteile in Höhe von 20 bis 30% im Normalfall noch hingenommen werden, gelten Marktanteile jenseits von 40% durchweg als kritisch. In die Beurteilung werden zudem die gesamten sonstigen Marktverhältnisse miteinbezogen, insbesondere die des potentiellen Wettbewerbs von Unternehmen am Marktrand.(Fußnote)
Im Handel muss beispielsweise daher die nötige Flexibilität gewährleistet bleiben, damit er angemessen auf die Wünsche der Verbraucher reagieren kann.(Fußnote) Hierfür reicht es aus, wenn neben einem freigestellten selektiven Vertriebssystem eines großen Herstellers noch andere Vertriebsformen mit abweichender Marktpolitik bestehen.
Der Wettbewerb im Handel ist aber dann ausgeschaltet, wenn im Falle der Erlaubnis eines Kartells die Lieferanten und Abnehmer von einer marktbeherrschenden Gruppe abhängig würden(Fußnote) oder wenn ein großes Bezugskartell die anderen Unternehmen von ihren Versorgungsquellen abzuschneiden droht.(Fußnote)

4.1.6.1.2 Gruppenfreistellung nach den Gruppenfreistellungsverordnungen (GFVO)

Gruppenfreistellungsverordnungen sind Verordnungen der Kommission, die aufgrund entsprechender Ermächtigungen des Rates erlassen wurden und durch die nach Art. 101 Abs. 3 AEUV Gruppen von Vereinbarungen von dem Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV freigestellt werden. Die verschiedenen GFVO sind nach demselben Muster aufgebaut: Nach der Beschreibung der freistellungsfähigen Vereinbarungen folgen ausführliche Kataloge erlaubter und verbotener Klauseln, die sog. weißen und schwarzen Listen. Danach kommen Vorschriften, die die Kommission zu einem Widerruf der Freistellung ermächtigen, falls ein Missbrauch des freigestellten Unternehmens vorliegt.
Die GFVO binden als Gesetzte im materiellen Sinne zwar die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten, allerdings steht es den Unternehmen frei, ob sie sich auf die GFVO stützen wollen oder nicht. Machen die Verordnungen ihre Anwendbarkeit von bestimmten Abreden der beteiligten Unternehmen abhängig, so sind die Unternehmen nicht etwa gezwungen, derartige Abreden zu treffen. Vielmehr können sie auch darauf verzichten und stattdessen nach Art. 101 Abs. 3 AEUV vorgehen.(Fußnote)
Wichtige GVFO sind vor allem:

  • Nr. 330/2010 betreffend Vertikalvereinbarungen;
  • Nr. 1218/2010 über Spezialisierungsvereinbarungen;
  • Nr. 1217/2010 über die Zusammenarbeit bei Forschung und Entwicklung;
  • Nr. 316/2014 über Technologietransfervereinbarungen

sowie sektorspezifische GFVO, wie etwa:

  • Nr. 267/2010 betreffend den Versicherungssektor und
  • Nr. 461/2010 betreffend den Kfz-Sektor.

Art. 2 Abs. 1 GFVO nennt die privilegierten Vereinbarungen. Diese Privilegierung gilt allerdings nur, soweit ein Marktanteil von 30 % insgesamt seitens des Anbieters und des Nachfragers durch die Vereinbarung nicht überschritten wird (Art. 3 GFVO).

Praktisch wichtig sind vor allem die in Art. 4 aufgeführten sog. Kernbeschränkungen (= schwarze Klauseln). Beim Vorliegen der diesbezüglichen Voraussetzungen entfällt die Privilegierung in vollem Umfang mit der Konsequenz, dass mangels Einzelfreistellung unter Anwendung von Art. 101 Abs. 3 AEUV zugleich jede weitere Wettbewerbsbeschränkung im Rahmen der konkreten Vertragsbeziehung zwischen den Beteiligten verboten ist. Die GFVO ist dann insgesamt auf die konkrete vertragliche Beziehung zwischen den Beteiligten unanwendbar. Dann ist jede Wettbewerbsbeschränkung zugleich nach Art. 101 Abs. 2 AEUV nichtig.


4.1.6.2 Ungeschriebene Ausnahmen vom Kartellverbot

Es ist unstreitig, dass es auch immanente Grenzen des Kartellverbots gibt. Solche Grenzen liegen einmal dort, wo

  • durch die Zusammenarbeit im Wege einer projektbezogenen Arbeitsgemeinschaft Wettbewerb auf dem relevanten Markt durch die Zusammenarbeit der Unternehmen praktisch erst geschaffen wird.

Beispiel:
Mehrere Unternehmen beteiligen sich gemeinsam an einer Ausschreibung und treten so gegen andere Unternehmen als Gemeinschaft in den Wettbewerb.

  • Der Zusammenschluss unterfällt dem Ausnahmetatbestand vom Kartellverbot, da die am Zusammenschluss beteiligten Unternehmen die Ausschreibungsbedingungen nach Größe und/oder Art der Tätigkeit nicht erfüllen würden, sie also allein noch gar keine Wettbewerber sind.
  • es um der Sache nach um unternehmensinterne Absprachen, vor allem zwischen Geschäftsinhaber und Handelsvertreter, geht.

Beispiel:
Unternehmen der Zuckerindustrie weisen ihre Handelsvertreter an, nicht zu exportieren.

  • Es liegt kein Verstoß gegen Art. 101 AEUV, weil es im Verhältnis zu diesen Absatzmittlern um die interne Vertriebsorganisation geht. Anders wäre es im Verhältnis zu freien Händlern, die das Geschäftsrisiko selbst tragen (z.B. Vertragshändler beim Kfz-Vertrieb).
  • ein zeitlich und räumlich beschränktes Wettbewerbsverbot erforderlich ist, um ein Unternehmen zu übertragen; denn das Kartellrecht will die Übertragung eines Unternehmens nicht schlechthin verhindern, und eine solche Übertragung ist ohne Wettbewerbsverbot in der Regel nicht möglich.

Beispiel:
Ein Bäcker verkauft seine Bäckerei und eröffnet alsbald in der Nähe eine neue Bäckerei.

  • Ein zeitlich und räumliches Wettbewerbsverbot ist erforderlich, da ohne ein solches der Käufer praktisch keine Chance hat, die Kunden des Verkäufers zu übernehmen.
  • Wettbewerbsverbote für die Bildung einer Gesellschaft von unternehmerisch tätigen Gesellschaften erforderlich sind (ohne etwa einen Deckmantel für verbotene Kartellierung zu bilden)

Beispiel:
Der die Geschäfte führende persönlich haftende Gesellschafter einer Bautransport AG möchte entgegen seiner gesellschaftsvertraglichen Verpflichtung mit der Bautransport AG ein eigenes Konkurrenzunternehmen betreiben.

  • Die Verpflichtung des persönlich haftenden Gesellschafters einer nach dem Gesellschaftsvertrag, die es ihm untersagt, der AG mit einem eigenen Unternehmen keine Konkurrenz zu machen ist wirksam. Ein solches Wettbewerbsverbot ist zur BIldung und dem Erhalt der Bautransport AG erforderlich.


Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Kartellrecht – Eine Einführung“ von Tilo Schindele, Rechtsanwalt, Constantin Raves, Rechtsanwalt, und Alexander Fallenstein, wissenschaftlicher Mitarbeiter, mit Fußnoten erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2017, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-77-9.



Herausgeber / Autor(-en):
Tilo Schindele
Rechtsanwalt

Constantin Raves
Rechtsanwalt


Kontakt: tilo.schindele@brennecke-rechtsanwaelte.de
Stand: Januar 2017


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Rechtsanwalt Schindele berät und vertritt bei Verstößen im Bereich des unlauteren Wettbewerbs, sei es im außergerichtlichen Bereich der Abmahnungen und Abschlussschreiben, im Bereich der einstweiligen Verfügungen oder in gerichtlichen Hauptsacheverfahren. Er prüft Werbeauftritte wi Internetseiten und Prospekte zur Vermeidung von Abmahnrisiken und verhandelt Vertragsstrafevereinbarungen zur Beseitigung der Wiederholungsgefahr zwischen Verletzern und Verletzten.

Tilo Schindele ist Dozent für Kartellrecht bei der DMA Deutsche Mittelstandsakademie.
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