Erwerbsminderungsrente und Berufsunfähigkeitsrente - Teil 05 – medizinische Voraussetzungen der Erwerbsminderung
2. Voraussetzung Erwerbsminderung
Als erwerbsgemindert nach § 43 I S.2 SGB VI gilt, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts aufgrund von Krankheit oder Behinderung, weniger als sechs Stunden am Tag arbeiten kann. Kann ein Betroffener noch mindestens drei, jedoch weniger als 6 Stunden pro Tag arbeiten, so ist er teilweise erwerbsgemindert. Fällt die Arbeitskraft des Betroffenen unter drei Stunden pro Tag, so gilt er als voll erwerbsgemindert. Einen Anspruch auf eine EM-Rente haben jedoch nur Personen, deren Leistungsvermögen für die Dauer von mindestens 6 Monaten eingeschränkt ist.
Beispiel
Die Buchhalterin B hat sich beim Skifahren einen komplizierten Oberschenkelbruch zugezogen. Aufgrund der dadurch verursachten Schmerzen kann B ihrer Tätigkeit einige Wochen lang nicht nachgehen. In dieser Zeit nimmt B an Rehabilitationsmaßnahmen teil, die ihre Leistungsfähigkeit wieder voll herstellen. Nach vier Monaten ist B wieder fit und hat deshalb zu keiner Zeit Anspruch auf eine EM-Rente.
Stellt ein Versicherter einen Antrag auf eine EM-Rente, so ist die Rentenversicherung verpflichtet, alle für den Sachverhalt relevanten Tatsachen zu ermitteln. Also auch all jene Tatsachen, die sich für den Betroffenen als günstig erweisen. Die Rentenversicherung überprüft nach Antragstellung zunächst, ob anhand der vom Betroffenen eingeschickten ärztlichen Unterlagen von einer Erwerbsminderung ausgegangen werden kann. Sie darf dazu weitere Gutachten anfordern oder den Betroffenen zu einer Heilbehandlung verpflichten, soweit solche Maßnahmen nicht als unzumutbar anzusehen sind. Wann genau eine Maßnahme für den Versicherten als unzumutbar gilt, ist jedoch im Einzelfall meist höchst umstritten und führt nicht selten zu gerichtlichen Auseinandersetzungen. Generell empfiehlt es sich deshalb den Aufforderungen der Rentenversicherung nachzukommen. Der Versicherte ist zwar nicht verpflichtet solchen Aufforderungen nachzukommen, er muss aber damit rechnen, dass ihm eine EM-Rente versagt wird, wenn er denn Aufforderungen nicht folgt.
Bevor eine EM-Rente genehmigt wird muss insbesondere geklärt werden, welche Krankheit oder Behinderung beim Betroffenen tatsächlich vorliegt. Für den Anspruch auf eine EM-Rente reicht es nämlich nicht aus, dass eine Gesundheitsstörung beim Antragsteller vermutet wird. Es muss zudem untersucht werden, ob der Betroffene noch (mittelschwere/leichte) Tätigkeiten verrichten kann und unter welchen Umständen (im Gehen/im Stehen, nachts…) er auf keinen Fall mehr arbeiten darf.
2.1 Medizinische Voraussetzungen
Ob ein Betroffener erwerbsgemindert ist und somit eine EM-Rente erhalten kann, richtet sich also nach seiner Fähigkeit „unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts“ am Arbeitsleben teilzunehmen. Für die Feststellung, ob eine EM-Rente gezahlt werden muss, kommt es somit nicht darauf an, dass beim Betroffenen lediglich eine bestimmte Krankheit diagnostiziert wird oder das Versorgungsamt eine Schwerbehinderung feststellt. Es kommt auch nicht darauf an, wie schwer die festgestellte Erkrankung oder Behinderung ist. Wichtig für die EM-Rente ist nur, inwieweit die festgestellte Krankheit oder Behinderung das Leistungsvermögen des Betroffenen einschränkt.
Beispiel
Ein Jahr nach dem Berufseinstieg diagnostiziert der behandelnde Hausarzt A beim ehemaligen Studenten S Mukoviszidose. S informiert sich daraufhin im Internet darüber, dass Mukoviszidose ein häufiger Grund für die Zahlung einer EM-Rente ist. S beantragt deshalb bei der Deutschen Rentenversicherung eine EM-Rente und legt seinem Antrag die Diagnose seiner Hausarztes bei. Die Diagnose allein sagt jedoch nichts über das vorhandene Leistungsvermögen des S aus. Die Rentenversicherung wird S deshalb auffordern an weiteren Untersuchungen teilzunehmen um festzustellen, in welchem Umfang S noch am Arbeitsleben teilnehmen kann. Erst durch diese Untersuchungen kann festgestellt werden, ob S überhaupt einen Anspruch auf eine EM-Rente hat.
Um festzustellen, ob eine Erwerbsminderung vorliegt ist also neben der Feststellung des individuellen Leistungsvermögens auch eine Prognose über das Potential dieses Leistungsvermögens am Arbeitsmarkt erforderlich. Wie bereits angedeutet, spielt der erlernte Beruf des Betroffenen bei der Feststellung seines individuellen Leistungsvermögens am Arbeitsmarkt keine Rolle für die EM-Rente. Der Betroffene hat keinen Anspruch auf eine EM-Rente, wenn er zwar seinen erlernten Beruf nicht mehr, dafür jedoch einen beliebigen anderen Beruf ausüben kann. Weiteres dazu siehe auch im Unterkapitel 2.2
Um einen möglichen Rentenanspruch zu überprüfen, beauftragt die Rentenversicherung einen neutralen Arzt ein Sachverständigengutachten zu erstellen. Dieser Arzt stellt zunächst fest, ob überhaupt eine Funktionsbeeinträchtigung vorliegt. Ob eine solche vorliegt, bestimmt sich nach der internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Nach diesem Modell gilt eine Person dann als gesund, wenn
- sie alles tun kann, was auch ein Mensch ohne Gesundheitsprobleme tun kann
- ihre mentalen und körperlichen Funktionen sowie ihre Körperstruktur allgemeinen, statistisch erhobenen Normen entsprechen
- sie in allen Lebensbereichen und allen Aktivitäten gleich einer körperlich und mental gesunden Person teilnehmen kann.
Ist eine Person in einem oder mehreren der genannten Bereiche eingeschränkt, so gilt sie als funktionsbeeinträchtigt. Als nächstes stellt der neutrale Arzt anhand des sogenannten ICD-10 Diagnoseschlüssels fest[1], welche Einschränkung konkret vorliegt. Bei diesem Diagnoseschlüssel handelt es sich um eine internationale Niederschrift von Krankheiten und ihren Symptomen. In einem dritten Schritt untersucht der neutrale Arzt dann, wie die nach ICD-10 diagnostizierte Krankheit die individuelle Leistungsfähigkeit des Betroffenen beeinträchtigt.
Beispiel
Im oben bereits dargestellten Fall des S wird ein neutraler Arzt von der Rentenversicherung beauftragt ein Gutachten über den Gesundheitszustand des S zu erstellen. Dieser Arzt wird zunächst prüfen, ob S unter einer Funktionsbeeinträchtigung leidet. Dies ist hier klar zu bejahen, da S Körperstruktur von der eines gesunden Menschen abweicht. Als nächstes wird der Arzt die Krankheit der S t nach ICD-10 klassifizieren. Diese Klassifizierung wiederum gibt Aufschluss über den üblichen Verlauf der Krankheit und hilft dem Arzt, Prognosen über die Entwicklung des Gesundheitszustands von S abzugeben. Auch wird der Arzt S auf mögliche Therapiemaßnahmen hin untersuchen. Nach ausführlicher Untersuchung erstellt der neutrale Arzt ein Gutachten über den Zustand des S, welches an den sozialmedizinischen Dienst der Rentenversicherung weitergereicht wird.
Neben dem „neutralen Gutachten“ empfiehlt es sich für Betroffene, der Rentenversicherung möglichst viele Unterlagen einzureichen, die Stand, Verlauf und Prognose der Erkrankung oder Behinderung dokumentieren. Alle vorhandenen Unterlagen werden nämlich an den sozialmedizinischen Dienst der Rentenversicherung weitergereicht. Dieses Gremium prüft die eingereichten Unterlagen und gibt letztendlich eine Stellungnahme zur Leistungsfähigkeit der betroffenen Person ab. Der Betroffene kann also davon profitieren, neben den Untersuchungen der Rentenversicherung, auch eigene (günstige) Gutachten einzureichen. Dafür spricht auch, dass der eigene Arzt die Erkrankung oder Behinderung oft schon lange begleitet und somit wichtige Details liefern kann. Zum Einreichen eignen sich bspw. möglichst ausführliche Befund-, Krankenhaus- oder Rehabilitations-entlassungsberichte sowie Gutachten anderer Sozialleistungsträger zur Einreichung. Alle Unterlagen, die bei der Rentenversicherung eingereicht werden, sollten jedoch möglichst aktuell sein.
[1] Zu diesem Diagnoseschlüssel gibt es zahlreiche Literatur und Internetquellen, die es Betroffenen ermöglicht, sich eigenständig mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch "Renten wegen Erwerbsminderung und Berufsunfähigkeit" von Olaf Bühler, Rechtsanwalt und Anna Martyna Werchracki, Wirtschaftsjuristin LL.B., 1. Auflage 2014, erschienen 2014 im Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-31-1.
Weiterlesen:
zum vorhergehenden Teil des Buches
zum folgenden Teil des Buches
Links zu allen Beiträgen der Serie Buch - Erwerbsminderungs- und Berufsunfähigkeitsrente
Kontakt: info@brennecke-rechtsanwaelte.deStand: Januar 2014