Preisabsprachen - Teil 07 - Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels
4.2.5 Eignung zur Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels (nur bei Art. 101 Abs. 1 AEUV)
Art. 101 AEUV setzt zusätzlich die Eignung zur Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels voraus. Die Maßnahme muss geeignet sein, den zwischenstaatlichen Handel zu beeinträchtigen.
Nach ständiger Rechtsprechung ist der Begriff des zwischenstaatlichen Handels weit auszulegen. Der Handel umfasst den gesamten Wirtschaftsverkehr zwischen den Mitgliedsstaaten, das heißt die Nachfrage und das Angebot von Waren und Dienstleistungen jeglicher Art.
Unter Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels wird jegliche Beeinträchtigung der Handelsströme verstanden. Dabei ist es unerheblich, ob die Beeinflussung ungünstige, neutrale oder günstige Auswirkungen auf den Handel hat. Ebenfalls unerheblich ist, ob die Beeinflussung unmittelbar, mittelbar, tatsächlich oder potenziell erfolgt. Erforderlich ist lediglich, dass die Handelsströme in eine andere Richtung gelenkt werden oder mit Wahrscheinlichkeit gelenkt werden können.
Die Zwischenstaatlichkeitsklausel ist zu bejahen, wenn sich anhand einer Gesamtheit objektiver, rechtlicher oder tatsächlicher Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit voraussehen lässt, dass die Vereinbarung unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder der Möglichkeit nach geeignet ist, den Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts ist nicht erforderlich, dass die Vereinbarung oder Verhaltensweise den Handel zwischen den Mitgliedstaaten tatsächlich beeinträchtigt bzw. beeinträchtigt hat. Es genügt die Eignung hierfür.[1]
Durch ihre weite Auslegung erfasst die Zwischenstaatlichkeitsklausel nicht nur Kartellrechtsverstöße von Unternehmen mit Sitz in unterschiedlichen Mitgliedsstaaten, sondern auch Wettbewerbsbeschränkungen, die sich nur auf einen nationalen oder regionalen Teilmarkt beziehen. Weiterhin werden auch Sachverhalte erfasst, bei denen zwei Unternehmen mit Sitz im selben Mitgliedsstaat eine verbotene Maßnahme vornehmen, die sich auf den Handel in anderen Mitgliedsstaaten auswirkt.[2]
Wie bereits bei der Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkungen erwähnt, muss im Rahmen der Prüfung der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels auch die Spürbarkeit der Handelsbeeinträchtigung vorliegen. Als Kriterien für die Spürbarkeitsbeurteilung kommt vor allem der Marktanteil der beteiligten Unternehmen, der mit den relevanten Produkten erzielte Umsatz, kumulative Wirkungen von parallelen Netzen, das Wesen der Vereinbarung und ihr wirtschaftlicher und rechtlicher Kontext in Betracht.[3] Es gilt der Grundsatz: je stärker die Marktstellung der Beteiligten, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit einer spürbaren Handelsbeeinträchtigung.[4]
Die Kommission hat in der Leitlinie über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels eine NAAT-Regel (no appreciable affectation of trade) formuliert, die bezüglich der Spürbarkeit eine widerlegbare Negativvermutung enthält. Die Regel gibt an, wann Vereinbarungen für gewöhnlich nicht geeignet sind den Handel zwischen Mitgliedstaaten spürbar zu beeinträchtigen.
In Fällen, in denen diese Negativvermutung anwendbar ist, wird die Kommission in der Regel weder auf Antrag noch von Amts wegen ein Verfahren einleiten. Gehen Unternehmen im guten Glauben davon aus, dass ihre Vereinbarung unter diese Negativvermutung fällt, wird die Kommission keine Geldbuße festsetzen. Die Vermutung bedeutet nicht, dass Vereinbarungen, die nicht die nachstehenden Kriterien erfüllen, automatisch geeignet sind den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Es ist jedenfalls eine Einzelfallprüfung notwendig.[5]
Eine Spürbarkeit der Handelsbeeinträchtigung liegt nach der Negativvermutung der Kommission nicht vor, wenn die folgenden Voraussetzungen von den Unternehmen gleichzeitig erfüllt sind:[6]
- gemeinsamer Marktanteil auf dem relevanten Markt: unter 5%
- Bei horizontalen Vereinbarungen: Unterschreitung des Gesamtjahresumsatzes von 40 Mio. EUR.
- Bei vertikalen Vereinbarungen: Unterschreiten des Jahresumsatzes des Lieferanten von 40 Mio. EUR.
4.2.6 Ausnahmen vom Kartellverbot
Liegt eine tatbestandliche Wettbewerbsbeschränkung nach Art. 101 Abs. 1 AEUV oder § 1 GWB vor, kann sie gem. Art. 101 Abs. 3 AEUV i.V.m. VO 1/2003, §§ 2, 3 GWB und im Rahmen von Gruppenfreistellungsverordnungen freistellungsfähig sein. Eine Freistellung bedeutet, dass die Vereinbarungen, welche ursprünglich den Tatbestand bereits verwirklicht haben vom Kartellverbot befreit werden. Im Folgenden werden die Voraussetzungen der Freistellungsmöglichkeit im europäischen und deutschen Recht dargestellt.
4.2.6.1 Freistellung im europäischen Recht
Im Europäischen Kartellrecht kann eine Freistellung nach dem System der Legalausnahme gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV i.V.m. VO 1/2003 oder nach einer Gruppenfreistellungsverordnung erfolgen.
[1] Wimmer-Leonhardt, WuW 2006, S. 487.
[2] Kling/Thomas, S. 137 f. Rn. 252.
[3] Leitlinie über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrages (2004/C 101/07) vom 27.04.2004, Rn. 47 f.
[4] Leitlinie über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrages (2004/C 101/07) vom 27.04.2004, Rn. 45.
[5] Leitlinie über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrages (2004/C 101/07) vom 27.04.2004, Rn. 50 f.
[6] Leitlinie über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrages (2004/C 101/07) vom 27.04.2004, Rn. 52.
Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Preisabsprachen im Kartellrecht“ von Tilo Schindele, Rechtsanwalt, und Laura Macht, wissenschaftliche Mitarbeiterin, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2018, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-87-8.
Kontakt: tilo.schindele@brennecke-rechtsanwaelte.de
Stand: Januar 2018
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