Die Betriebsvereinbarung – Das Regelungsinstrument der Betriebspartner – Teil 17 – Der Rechtsverzicht und der zeitliche Rahmen der Rechte aus Betriebsvereinbarungen, Verwirkung
7. Der Rechtsverzicht und der zeitliche Rahmen der Rechte aus Betriebsvereinbarungen
Als rechtliche Besonderheit im Hinblick auf Betriebsvereinbarungen sieht § 77 Abs. 4 BetrVG nicht nur deren normative Rechtswirkung vor. Auch bezüglich eines etwaigen Rechtsverzichtes und des zeitlichen Rahmens für die Geltendmachung von Rechten aus Betriebsvereinbarungen gibt es nach dieser Vorschrift Sonderregelungen.
7.1. Verzicht
Ein Arbeitnehmer kann ohne die Zustimmung des Betriebsrats nicht wirksam auf die ihm durch eine Betriebsvereinbarung gewährten Rechte verzichten (§ 77 Abs. 4 S. 2 BetrVG). Die Zustimmung des Betriebsrats setzt einen seinerseits gefassten Beschluss nach § 33 BetrVG voraus, der auch nachträglich erfolgen kann (vgl. --> 2.1.1).
Beispiel
Aufgrund einer bevorstehenden Betriebsschließung schließen die Betriebspartner einen Sozialplan ab, in dem ein Abfindungsanspruch der Beschäftigten vorgesehen wird. Kurze Zeit später vereinbart der Arbeitgeber individuell mit Arbeitnehmer X einen Aufhebungsvertrag, durch welchen sein Arbeitsverhältnis beendet werden soll. Auch dieser enthält einen Abfindungsanspruch, der jedoch geringer ausfällt als die Sozialplanabfindung. Auf diese soll Arbeitnehmer X laut Vertrag gänzlich verzichten. Der Betriebsrat weiß hiervon nichts.
- Arbeitnehmer X verzichtet hier auf ein Recht aus einem Sozialplan, was der Zustimmung des Betriebsrats bedarf. Da diese vorliegend weder vom Arbeitgeber noch vom Arbeitnehmer eingeholt wurde, ist der Verzicht auf die Sozialplanabfindung nach § 77 Abs. 4 S. 2 BetrVG unzulässig.
Beispiel
Die Arbeitsvertragsparteien wollen einen Rechtsstreit bezüglich einer Kündigung beenden und sich zu diesem Zweck vergleichen. Im Vergleich wird aufgenommen, dass der Arbeitnehmer eine Abfindung für den Verlust seines Arbeitsplatzes bekommt. Im Gegenzug hierzu soll er auf sämtliche Sonderzahlungen verzichten. Laut einer geltenden Betriebsvereinbarung steht ihm ein 13. Monatsgehalt zu. Der Betriebsrat verweigert die Zustimmung zum Verzicht.
- Die für den Verzicht auf das 13. Monatsgehalt nach § 77 Abs. 4 S. 2 BetrVG notwendige Zustimmung des Betriebsrats wurde hier verweigert. Demnach ist die entsprechende Klausel im Vergleich unwirksam.
Beispiel
Der Arbeitgeber erfährt von der Unwirksamkeit des Verzichts auf die Sozialplanabfindung im abgeschlossenen Aufhebungsvertrag (Beispiel). Daraufhin wendet er sich an den Betriebsrat, der dem Verzicht noch zustimmen soll. Der Betriebsrat erteilt die Zustimmung.
- Der wegen Fehlens einer Betriebsratszustimmung nach § 77 Abs. 4 S. 2 BetrVG zunächst unwirksam vereinbarte Verzicht des Arbeitnehmers auf die Sozialplanabfindung wurde hier durch die im Nachhinein erteilte Zustimmung des Betriebsrats gem. § 184 Abs. 1 BGB nachträglich wirksam.
7.2. Verwirkung
In der Regel verwirken Rechte gem. § 242 BGB, wenn sie über eine längere Zeit hinweg nicht geltend gemacht werden und darauf vertraut werden kann, dass dies auch künftig nicht mehr geschehen wird. Ist ein Recht verwirkt, so kann es von seinem Inhaber nicht mehr beansprucht werden. Zu diesem Grundsatz stellt § 77 Abs. 4 S. 3 BetrVG eine Ausnahme auf. Nach dieser Norm ist die Verwirkung von Rechten aus Betriebsvereinbarungen ausgeschlossen. Dies gilt jedoch nur für Rechte von Arbeitnehmern. Eine Verwirkung von Arbeitgeberrechten kommt demnach auch weiterhin in Betracht.
Beispiel
Die Betriebspartner schließen eine Betriebsvereinbarung zu Fortbildung der Beschäftigten ab. In ihr wird vorgesehen, dass die Arbeitnehmer einen Anspruch auf die Erstattung der ihnen durch eine Fort- oder Weiterbildungsmaßnahme entstehenden Kosten haben. Ausschlussfristen für diesen Anspruch existieren nicht. Nach Absolvierung einer Maßnahme denkt Arbeitnehmer X nicht daran, sich die Kosten erstatten zu lassen. Dem Arbeitgeber sagt er, hinsichtlich der absolvierten Maßnahme sei alles erledigt. Über zwei Jahre später fällt dem Arbeitnehmer der nicht geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch auf. Mit dem Hinweis darauf, es sei hierfür zu spät, verweigert der Arbeitgeber die Kostenerstattung.
- Für den Anspruch auf die Kostenerstattung gilt nach § 195 BGB eine dreijährige Verjährungsfrist, weshalb dieser noch nicht verjährt ist. In Betracht käme hier jedoch, dass er nach § 242 BGB verwirkt ist, da der Arbeitnehmer die Kostenerstattung über 2 Jahre nicht verlangt hat und der Arbeitgeber sich wegen seiner Aussage, es sei alles erledigt, darauf einstellen konnte, dass der Anspruch auch künftig nicht mehr geltend gemacht wird. Der Kostenerstattungsanspruch ergibt sich vorliegend jedoch aus einer Betriebsvereinbarung und kann demnach gem. § 77 Abs. 4 S. 3 BetrVG nicht verwirken. Somit kann Arbeitnehmer X die Kostenerstattung noch verlangen.
Beispiel
Eine bestehende Betriebsvereinbarung regelt einen Anspruch der Beschäftigten auf eine Sondervergütung aller abgeleisteten Überstunden. Aufzeichnungen bezüglich dieser sollen die Arbeitnehmer selbständig führen und dem Arbeitgeber zwecks Abrechnung am Monatsende vorlegen. Obwohl Arbeitnehmer X Anfang Januar einige Überstunden ableistete, legt er keine Aufzeichnungen zu diesen vor. Mehrmaliges Nachfragen des Arbeitgebers in den Folgemonaten, ob Sondervergütungen noch ausstünden, verneint der Arbeitnehmer. Am Jahresende bemerkt dieser nach Durchsicht seiner Unterlagen, dass ihm doch noch eine Sondervergütung für den Monat Januar zusteht. Trotz fehlender Ausschlussfristen für den Anspruch weigert sich der Arbeitgeber jedoch die Sondervergütung zu gewähren. Er habe schließlich oft genug nachgefragt.
- Der Anspruch auf die Sondervergütung ist noch nicht verjährt (§ 195 BGB). Der Arbeitnehmer hat ihn jedoch beinahe 1 Jahr nicht geltend gemacht. Da der Arbeitgeber aufgrund seiner Zusicherungen darauf vertrauen durfte, dass dies auch in Zukunft nicht mehr passiert, wäre der Anspruch auf die Sondervergütung hier nach § 242 BGB grundsätzlich verwirkt. Dem steht aber § 77 Abs. 4 S. 3 BetrVG entgegen, der eine Verwirkung von Arbeitnehmerrechten aus Betriebsvereinbarungen ausschließt. Somit kann Arbeitnehmer X die ausstehende Sondervergütung noch geltend machen.
Beispiel
In der Betriebsvereinbarung nach dem Beispiel einigen sich die Betriebspartner auf eine Klausel, nach der die Kostenerstattung jährlich nur für eine Fort- oder Weiterbildungsmaßnahme gewährt werden kann. Eine darüber hinaus erfolgte Kostenerstattung soll von den Beschäftigten zurückgezahlt werden. Arbeitnehmer X hat im laufenden Jahr bereits seine zweite Weiterbildungsmaßnahme absolviert, für die ihm die Kosten erstattet werden. Der Arbeitgeber sagt, er freue sich über die zusätzliche Weiterbildungsmaßnahme. Im Hinblick auf die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers habe sich diese schließlich mehr als bezahlt gemacht. Nach 2 Jahren stellt der Arbeitgeber fest, dass dem Arbeitnehmer laut Betriebsvereinbarung gar kein Anspruch auf die Kostenerstattung für die zweite Weiterbildungsmaßnahme zustand. Er verlangt deswegen eine Rückzahlung.
- Der Anspruch auf die Rückzahlung der Kostenerstattung ist hier zwar noch nicht verjährt (§ 195 BGB); in der vorliegenden Konstellation jedoch nach § 242 BGB verwirkt. Der Arbeitgeber hat die Rückzahlung über einen Zeitraum von 2 Jahren von Arbeitnehmer X nicht gefordert. Aus den Aussagen des Arbeitgebers konnte er darauf schließen, dass eine Rückzahlung auch künftig nicht gewünscht sein wird. Die Verwirkung ist auch nicht gem. § 77 Abs. 4 S. 3 BetrVG ausgeschlossen, da dies nur Arbeitnehmerrechte betrifft. Demnach kann der Arbeitgeber die Rückzahlung der gewährten Kostenerstattung nicht mehr verlangen.
Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Die Betriebsvereinbarung – Das Regelungsinstrument der Betriebspartner“ von Tilo Schindele, Rechtsanwalt, und Alexander Geier, Wirtschaftsjurist LL.B., erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2017, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-70-0.
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Herausgeber / Autor(-en):
Tilo Schindele, Rechtsanwalt
Rechtsanwalt Tilo Schindele ist seit 20 Jahren im Arbeitsrecht tätig.
Er prüft, erstellt und verhandelt unter anderem
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und berät und vertritt Betriebsräte.
Rechtsanwalt Schindele ist Dozent an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, Stuttgart.
Seit 2001 unterrichtet er „Grundzüge im Arbeits- und Insolvenzrecht".
Rechtsanwalt Tilo Schindele hat veröffentlicht:
- Arbeitnehmerüberlassung, Tilo Schindele und Patricia Netto, 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-55-7
- Die internationale Entsendung von Mitarbeitern, Tilo Schindele und Babett Stoye, LL.B., 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-57-1
Rechtsanwalt Tilo Schindele bereitet derzeit folgende Veröffentlichungen vor:
- Arbeitnehmer und Scheinselbständigkeit
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