Erwerbsminderungsrente und Berufsunfähigkeitsrente - Teil 08 – Die Renten: Wegeunfähigkeit und betriebsunübliche Pausen
Herausgeber / Autor(-en):
Anna Martyna Werchracki
wissenschaftliche Mitarbeiterin
3. Die Renten
3.1 Rente bei voller Erwerbsminderung
Die volle EM-Rente ist im § 43 Abs. 2 SGB VI geregelt. Neben den bereits aufgeführten Voraussetzungen steht eine volle EM-Rente Personen zu, die aufgrund einer Erwerbsminderung nur noch weniger als drei Stunden täglich arbeiten können. Der Gesetzgeber geht in diesem Fall davon aus, dass Personen, deren Leistungsvermögen unter drei Stunden täglich sinkt, keiner Arbeit nachgehen können. Arbeitsplätze mit einer so geringen Arbeitszeit sind auf dem deutschen Arbeitsmarkt schlichtweg kaum vorhanden. Ob eine voll erwerbsgeminderte Person tatsächlich einer geringfügigen Beschäftigung nachgeht oder nicht, spielt dabei erstmal keine Rolle. Eventuelle Einkünfte müssen ohnehin auf die EM-Rente angerechnet werden. Weitere Ausführungen zum Thema Hinzuverdienst finden sich in Kapitel 5.
Unter besonderen Umständen können Betroffene jedoch auch dann eine volle EM-Rente erhalten, wenn sie nach den bisher vorgestellten Kriterien eigentlich keinen Anspruch auf die volle Rente hätten. Solche Ausnahmen ergeben sich für die folgenden Fälle:
Wegeunfähigkeit:
Wegeunfähigkeit bedeutet, dass der Betroffene nicht in der Lage ist einen Arbeitsplatz zu erreichen. Die herrschende Auffassung sieht eine Wegeunfähigkeit dann als gegeben an, wenn der Betroffene nicht in der Lage ist, vier mal täglich eine Strecke von 0,5 km zu Fuß zu bewältigen. Der halbe Kilometer wurde hier deshalb ausgewählt, da man annimmt, die Entfernung zwischen dem Wohnort und der nächsten Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels betrage eben 500m. Hat der Betroffene jedoch einen Arbeitsplatz, den er erreichen kann, steht ihm keine volle EM-Rente zu.
Betroffenen empfiehlt es sich unter solchen Umständen zudem mögliche Zuschüsse für ein Kraftfahrzeug nach der Kfz-Hilfe-Verordnung abzuklären. Steht dem Betroffenen nämlich ein Zuschuss für ein Kraftfahrzeug zu, wird dieser jedoch nicht beantragt, kann keine Wegeunfähigkeit geltend gemacht werden.
Beispiel
Der Hobbykletterer K ist Verkäufer in einem Kletterfachgeschäft. Durch einen ungesicherten Sturz erleidet K jedoch schwerwiegende Verletzungen des rechten Beines, die auch durch eine Rehabilitation nicht mehr behoben werden können. Der Arbeitgeber des K bietet ihm daraufhin eine Teilzeit-Arbeitsstelle in der Verwaltung des Ladens an. K besitzt jedoch kein Auto und kann die 350m bis zur Bushaltestelle nicht mehr bewältigen. K meint, dass bei ihm deshalb Wegeunfähigkeit vorliegt und beantragt eine volle EM-Rente. Nach der Kfz-Hilfe-Verordnung würde K jedoch ein erheblicher Zuschuss für ein Kfz zustehen, mit dem K den Weg zur Arbeit bewältigen könnte. K hat somit keinen Anspruch auf eine volle EM-Rente.
Ein solcher Kfz-Zuschuss kann jedoch nur gewährt werden, wenn sich der Betroffene aktuell in einem Arbeitsverhältnis befindet. Nach der aktuellen Rechtsprechung muss ein Betroffener sich jedoch auf Arbeitsplätze bewerben und beim Erhalt eines Arbeitsplatzes prüfen, ob ein Kfz-Zuschuss möglich ist (LSG Hessen vom 18.05.2010 – L 5 R 28/09)
Beispiel
Trotz seines verbliebenen Teilleistungsvermögens kann K seinen Beruf als Verkäufer nicht mehr ausüben. Da K auch die 350m entfernte Bushaltestelle nicht mehr zu Fuß erreichen kann, bewirbt er sich nicht auf andere Arbeitsplätze und beantragt die volle EM-Rente wegen Wegeunfähigkeit. K kann in dieser Konstellation jedoch keine volle EM-Rente erhalten. Nach der vorgestellten Rechtsprechung ist er zunächst verpflichtet sich eine Anstellung zu suchen und dann zu prüfen, ob ihm ein Kfz-Zuschuss zusteht. Erst wenn feststeht, dass K einen solchen Zuschuss nicht erhalten kann, steht ihm die volle EM-Rente zu. Ansonsten kann K nur eine teilweise EM-Rente erhalten.
Das Urteil des LSG Hessen ist jedoch höchst umstritten, da es den Erhalt einer vollen EM-Rente bei Wegeunfähigkeit praktisch ausschließt. Betroffenen ist in dieser Situation deshalb zu empfehlen sich über rechtliche Möglichkeiten beraten zu lassen.
Betriebsunübliche notwendige Pausen:
Diese Kategorie zielt auf Betroffene ab, die zwar leistungsfähig sind, jedoch durch die sogenannten betriebsunüblichen notwendigen Pausen auf dem Arbeitsmarkt eingeschränkt werden. Hier sind also Personen gemeint, die durch eine Krankheit oder Behinderung regelmäßige Pausen eingelegen müssen, die im betrieblichen Ablauf jedoch nicht vorgesehen sind. Solche Personen können oftmals trotz ihrer verbliebenen Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine Beschäftigung finden.
Beispiel
D erkrankt an einer besonders schwer regulierbaren Form von Diabetes. Er muss sich deshalb fünfmal am Tag Insulin spritzen und eine Mahlzeit einnehmen. D hat bisher in einer Chemiefabrik gearbeitet. Um eine Mahlzeit einzunehmen muss D seine Schutzkleidung ablegen und sich in einen Pausenraum begeben. Er verliert somit durch jede Pause etwa 20 Minuten. D ist für das Unternehmen damit nicht mehr tragbar. Bei der nächsten Gelegenheit wird der Arbeitsvertrag des D nicht mehr verlängert. Aufgrund seiner Einschränkung findet D auch keinen anderen Arbeitsplatz.
Wann bei einer Erkrankung jedoch tatsächlich Pausen vorliegen, die nicht in einen normalen Arbeitsalltag zu integrieren sind, ist in der Rechtsprechung sehr umstritten. Betroffene sollten sich somit auch hier möglichst umfassend von einer neutralen Stelle beraten lassen.
Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch "Renten wegen Erwerbsminderung und Berufsunfähigkeit" von Olaf Bühler, Rechtsanwalt und Anna Martyna Werchracki, Wirtschaftsjuristin LL.B., 1. Auflage 2014, erschienen 2014 im Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-31-1.
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Herausgeber / Autor(-en):
Anna Martyna Werchracki
wissenschaftliche Mitarbeiterin
Stand: März 2014
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